Fiktive Reaktorkatastrophe in Deutschland

Als es 1986 im Kernkraftwerk von Tschernobyl zu einem Super-GAU kam, also zum Größten Anzunehmenden Unfall, waren viele Menschen in Deutschland wie gelähmt. Der havarierte Reaktor lag weit entfernt in der Ukraine, aber das Gemüse, das vor der eigenen Haustür wuchs, durfte niemand mehr essen, weil es verstrahlt sein konnte. Das Gleiche galt für die Milch. Kinder durften nicht mehr im Freien spielen und verstanden nicht warum. Denn die gefährliche Strahlung war unsichtbar. Man konnte sie weder sehen noch hören noch schmecken.

Was wäre, wenn das in Deutschland passieren würde?

Ein Jahr später, als die wichtigsten Vorsichtsmaßnahmen bereits wieder aufgehoben waren, veröffentlichte Gudrun Pausewang ihren Jugendroman Die Wolke. Sie versuchte darin zu zeigen, welche verheerenden Folgen eine solche Katastrophe haben könnte, wenn sie sich in Deutschland ereignen würde. Ihr Buch spielt in Schlitz, wo die Autorin seit 1972 lebt. Den Unfall verlegte sie in ein Kernkraftwerk an der nahe gelegenen bayerischen Grenze. In kräftiger Sprache schilderte sie das Chaos, die Verzweiflung und das Sterben nach dem Austritt der radioaktiven Wolke. Ihr Buch wurde zum Millionenseller. Übersetzungen in 13 Sprachen und eine eindrückliche Verfilmung folgten.

Jugendliteraturpreis für Roman Die Wolke

1988 erhielt sie dafür den Deutschen Jugendliteraturpreis – nach heftigen Diskussionen. Zu dem Vorwurf, sie schüre mit ihrer schonungslosen Darstellung Angst bei Kindern und Jugendlichen, sagte Gudrun Pausewang in einem Interview mit der Freien Presse Chemnitz: „Wenn der Raum um das Atomkraftwerk Hals über Kopf evakuiert wird, und die Menschen leiden – wie soll man solche Vorgänge anders als drastisch schildern? Ich habe das Buch mit der Absicht geschrieben zu warnen.“ Gudrun Pausewang ist eine Schriftstellerin, die ihre jungen Leser ernst nimmt, sie nicht mit schönen Geschichten aus einer heilen Welt abspeist, sondern sie auf Gefahren hinweist, die unser Leben, unsere Umwelt und unsere Gesellschaftsordnung bedrohen. Leidenschaftlich wie keiner ihrer Kollegen schreibe sie, so Rainer Schulze in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, „gegen den Krieg im Allgemeinen, die Nationalsozialisten und ihre Nachahmer im Besonderen. Gegen den Hunger, die Armut, das Elend, die Umweltzerstörung hat sie angeschrieben. Mit realis­tischen Büchern, in denen Gut und Böse, Richtig und Falsch immer eindeutig verteilt sind“. Sie hat es noch erlebt, was es heißt, in einem totalitären Staat ohne individuelle Freiheit aufzuwachsen. Aber sie hat es damals nicht so empfunden.

Gudrun Pausewang wurde am 3. März 1928 im ostböhmischen Wichstadtl geboren. Ihr Vater, der im Zweiten Weltkrieg fiel, verehrte Hitler, und sie dachte nicht anders. Als der Krieg verloren war, weinte sie. Mit ihrer Mutter und ihren fünf Geschwistern musste sie nach Deutschland fliehen. Ihre Kindheit und ihre Flucht hat sie in ihren Rosinkawiese-Büchern beschrieben. In Wiesbaden machte sie Abitur und ließ sich zur Lehrerin ausbilden. 1956 ging sie nach Südamerika, wo sie an deutschen Schulen unterrichtete. Nach einem Zwischenspiel in Deutschland als Lehrerin und Germanistik-Studentin in Mainz, arbeitete sie fünf Jahre in Kolumbien, ehe sie sich endgültig in Osthessen niederließ und bis 1989 als Lehrerin an einer Grundschule in Schlitz tätig war. Auch für diese ganz jungen Leser hat Gudrun Pausewang Bücher verfasst, zum Beispiel die Geschichten über den Räuber Grapsch. Begonnen hatte sie 1959 mit Romanen für Erwachsene, in denen sie ihre bitteren Erfahrungen aus Südamerika, die brennende soziale Not und die politische Korruption, die sie erlebt und erfahren hatte, literarisch verarbeitete.

Jugendromane zählen heute zur Schullektüre

Aber besonders nachdrücklich und wirkungsmächtig sind ihre Jugendromane, die heute zur Schullektüre zählen. Neben der Wolke sind das vor allem der Band Die letzten Kinder von Schewenborn (1983) über einen möglichen Atomkrieg und ihre beiden Romane über den neuen Faschismus in Deutschland Der Schlund (1993) und Die Meute (2006). 1998, mit 70 Jahren, wurde sie mit einer Dissertation über Vergessene Jugendschriftsteller der Erich-Kästner-Generation in Frankfurt promoviert. 2005 folgte eine weitere große Arbeit von ihr über Die Kinder- und Jugendliteratur des Nationalsozialismus als Instrument ideologischer Beeinflussung. (Beide wissenschaftlichen Werke erschienen unter ihrem Passnamen Gudrun Wilcke, den sie seit ihrer Heirat trägt und nach der Scheidung nicht abgelegt hat.) 2009 erhielt sie den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur für ihr Lebenswerk. Sechs Schulen sind nach ihr benannt.